Kontinuitäten nach 1945
Gestern vor 60 Jahren, am 31. Mai 1962, wurde Adolf Eichmann erhängt.
Zahlreiche andere NS-Täter* wie Leo Karsten, Josef Eichberger, Robert Ritter und Heinrich Böhlhoff wurden freigesprochen. NS-Täter, die die industrielle Ermordung Hunderttausender Menschen zu verantworten hatten, attestierten später Gerichten, an denen Richter mit derselben alten NS-Ideologie urteilten, nicht gewusst zu haben, was sie taten.
Gerichtsverfahren gegen Eva Justin, die mit ihrem Kollegen Robert Ritter Zehntausende so genannter Rassegutachten über Sinti und Roma erstellte (darunter zahlreiche Kinder), die Menschen in die industrielle Ermordung führten, wurden eingestellt.
Später relativiert Justin in der Presse die NS-Taten und behauptete: «Rassendiagnostische Gutachten habe ich nie gemacht; meines Wissens hat es sie nie gegeben. Ich hatte mit Rassenhygiene nichts zu tun.» Das war schlicht gelogen. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma fand 1986 auch ein von Frau Prof. Erhardt unterschriebenes «Rassegutachten», das interessierte die Staatsanwaltschaft jedoch nicht. Erhardt behauptete, sie habe von Himmlers Plänen nichts gewusst, auch das war gelogen. Erhardt war eine Mitarbeiterin des NS-Täters Robert Ritter und führte «Forschungen» sowie die alten NS-Akten nach dem Holocaust am Anthropologischen Institut Tübingen weiter. Prof. Dr. Müller Hill bezeichnete diese 1984 als «Planungsunterlagen des Genozids»
Als gegen Eva Justin Anklage erhoben wurde, schreibt Hermann Arnold an Eichberger: Gegen Eva Justin scheint man zu intrigieren. Ich bin der Meinung, dass es ein Riesen-Unsinn ist, denn man kann nicht aus den Verhältnissen von 58 heraus Dinge erörtern, die 1940 geschehen sind. Schließlich ist die Zeit ein versöhnender Faktor und wenn über eine dumme Sache endlich Gras gewachsen ist, sollte man nicht einem Esel erlauben, es wieder wegzufressen.» (Spitta/ Seybold 1987)
Robert Ritter, einer der hauptverantwortlichen NS-Täter, konnte mit seiner Assistentin Eva Justin, die mit ihren pseudowissenschaftlichen Gutachten maßgeblich zum Massenmord an Sinti und Roma beitrug, 1947 als Amtsarzt in Frankfurt am Main anfangen. Seine Akten brachte er dem Anthropologischen Institut in Stuttgart, wo mit ihnen bis zu einem Verbot durch den Wechsel der Institutsleitung, weitergearbeitet wurde. Ritter arbeitete bis zu seinem Tod 1951 unbehelligt als Arzt des städtischen Gesundheitsamts Frankfurt.
Eva Justin übergab ihre Akten 1949 an die «Zigeunerpolizeistelle» zur weiteren Verwendung, damals war die unausgebildete NS-Täterin bereits «Psychologin» am Gesundheitsamt in Frankfurt. Alle Haupttäter*innen und Organisatoren* des Holocaust an Sinti und Roma wurden in Gerichtsverfahren freigesprochen, obwohl sie unzählige Menschen in den Tod geschickt hatten, Eva Justin aus «Mangel an Beweisen» und Robert Ritter, weil er angeblich «nur bis 1942 Rassenforschung betrieben und mit den Auschwitz-Deportationen nichts zu tun gehabt» habe, obwohl er bis 1945 «Rassengutachten» erstellte, aufgrund derer Zehntausende Sinti und Roma ermordet wurden.
Täter* wie Böhlhoff machten auch nach 1945 Karriere. Er wurde in den 1950er-Jahren Leiter der Kripo Dortmund und «Experte für Zigeunerbekämpfung» im LKA Nordrhein-Westfalen. Er starb 1961, ohne je angeklagt, bestraft oder gar verurteilt worden zu sein. Seine Zuständigkeit in der NS-Politik war bekannt, doch das Interesse an seiner Verfolgung und Aufarbeitung der systematischen Ermordungen von Sinti und Roma zu gering. Im Gegenteil. Die Weiterführung der «vorbeugenden Verbrechensbekämpfung», machte man davon abhängig, ob die «Zunahme von Kriminalität, tatsächlich direkt mit einer großen umherziehenden Zigeunerpopulation zusammenhängt», zusammen mit anderen Maßnahmen, die zu ihrer Kontrolle noch bestimmt werden müssen.
«Die von der Militärregierung verordnete Zurückhaltung hatte bereits im August 1948 wieder ein Ende, als die Landespolizeiverwaltung im Innenministerium – nun nicht mehr von den Alliierten kontrolliert – erneut ‹die Bekämpfung des Zigeunerwesens› [sic!] verfügte. Darin wurde den Polizeibeamten befohlen, ‹auf die Zigeuner ihr besonderes Augenmerk zu richten und festgestellte strafbare Handlungen unnachsichtig zur Anzeige zu bringen.› […] Um Straftaten und Belästigungen des Publikums durch umherziehende Zigeuner von vornherein nach Möglichkeit zu verhüten, […] sind namentlich die größeren Banden unter dauernde polizeiliche Kontrolle zu nehmen.» Damit war die grundsätzliche Kriminalisierung aller fahrenden Sinti und Roma erneut institutionalisiert und die Linie für die nächsten Jahrzehnte vorgegeben.» (Zentralrat Deutscher Sinti und Roma- Newess 2020:127)
Es gab zahlreiche weitere NS-Täter*innen, die unter anderem grausam medizinische Menschenversuche an Sinti und Roma durchführten, die diese wenn nicht umbrachten, so doch lebenslang schwer schädigten und die nie zur Verantwortung gezogen wurden. Im Gegenteil, ging die Verfolgung für die Überlebenden und Nachfahr*innen weiter.
Die Polizei verfolgte Roma und Sinti mit speziellen Zentralen und Hilfe der NS-Akten weiter und es wurden auch weiterhin neue Daten erhoben, Sinti und Roma nach ethnischer Herkunft auch familienweise erfasst. Beschwerden an Parteien halfen nicht. Die NS-Ideologie hielt sich in allen gesellschaftlichen Bereichen und wurde weiterhin angeheizt. So meldete die Polizei ungebrochen auch die ethnische Herkunft (bis heute) an die Presse, die entsprechende rassistische Berichte verfasste und so die Zuschreibungen in der Mehrheitsbevölkerung hielt. Lediglich Begriffe wurden geändert, die damit einhergehenden Zuschreibungen befanden sich jedoch nach wie vor in den Dokumenten der Ämter.
«Die Kirchen schwiegen auch nach 1945 lange zu der Verfolgung von Sinti und Roma», etliche hatten sie mit Hilfe der Kirchenbücher an Nationalsozialist*innen verraten. Eine 1974 gegründete ‹Zigeuner- und Nomadenseelsorge› wurde 1986 wieder aufgelöst. In ihren Veröffentlichungen übernahm die katholische Kirche auch unwidersprochen Thesen des rassistischen ‹Erbhygienikers› Dr. Arnold, mit dem sie zum Teil zusammenarbeiteten. Sie schrieben beispielsweise 1981, Sinti und Roma seien ‹als ganzes Volk geistig zurückgeblieben, lernunfähig moralisch labil, willensschwach und vom Wesen her wie Kinder›. Wer ihnen Schulbildung zuteil kommen lassen wolle, ‹zerstöre ihre angeblich arteigene Kultur des Analphabetentums›. Im Jahr 1973 schrieb der Rassenhygieniker Dr. Arnold im Vorwort zum einzigen ‹Zigeuner›-Sonderheft des katholischen Wohlfahrtsverbandes ‹Caritas›, ‹dass im Alter von etwa 12 Jahren die Aufnahmefähigkeit des Zigeunerkindes praktisch endet, erst der Heranwachsende ist wieder lernbereit, was besagt, dass eine Berufsausbildung im üblichen Alter in der Regel nicht akzeptiert wird. Mit 18–20 Jahren ist dann nur noch das Anlernen der einfacheren Tätigkeiten möglich.»
«Im selben Heft der Caritas erhielt Dr. Arnold außerdem die Gelegenheit, neue polizeiliche Sondergesetze gegen Sinti und Roma unter ausdrücklicher Mißachtung von Verfassungsgrundsätzen zu verlangen.» (Rose 1987:168)
Etlichen Holocaustüberlebenden war es nach 1945 nicht mehr möglich zu arbeiten. Dies lag darin begründet, dass sie in den KZs häufig schwere körperliche Einschränkungen davongetragen hatten, aber auch im weiterhin anhaltenden rassistisch gewaltsamen Ausschluss aus der Gesellschaft. NS Sprache fand man in allen Medien, in Behörden, wo Menschen mit denselben Täter*inne konfrontiert waren, die sie zuvor in KZs quälten, in Gerichten, überall in der Gesellschaft und führte eine weiterhin zutiefst gespaltene Gesellschaft fort. So etwas wie eine «Wiedergutmachung» , die es ohnehin nie geben kann, hat es nie gegeben! Die Täter*gesellschaft hat schlicht Schuld umgekehrt, eine Aufarbeitung des Samudaripen, den Völkermord an Roma und Sinti hat es zuerst nicht, später nur sehr rudimentär gegeben. Der Völkermord wurde erst 1982 überhaupt als solcher anerkannt.
Doch selbst in 2019 waren NS Ideen von der AfD im deutschen Bundestag noch sagbar, der da „meinte“, dass es «eben leider nicht» so einfach sei, eindeutig zwischen Tätern und Opfern im Holocaust zu unterscheiden. «Wir sind uns einig, dass wirklich niemand in ein Konzentrationslager gehört. Wenn es aber darum geht, über welche Personengruppen wir hier heute eigentlich sprechen, dann müssen wir schon einmal etwas genauer hinschauen». Zu den von ihm aufgeführten Opfergruppen gehörten auch Sinti und Roma.
Durch Wegbereiter wie die AfD, wurden Schuldumkehr und Holocaustrelativierung in der gesamten deutschen Gesellschaft wieder zunehmend zu einer „diskutablen Meinung“ gemacht und führt in ansteigende Gewalt gegen unsere Menschen. So hält sich der Rassismus gegen Roma und Sinti bis heute fest in den Köpfen der Dominanzgesellschaft mit weiterhin fatalen Auswirkungen für unsere Menschen in ganz Europa.
Quellen: Rose, Romani (1987): Bürgerrechte für Sinti und Roma. Das Buch zum Rassismus in Deutschland.
Spitta, Melanie/Seybold, Katrin (1987) (Regie): Das Falsche Wort: Wiedergutmachung an Zigeunern (Sinti) in Deutschland? Dokumentarfilm.
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