Rassismus gegen Rom*nja und Sinti*zze – ein europäisches Problem

David Nikolic und Stefan Pavlovic, Rroma-Informations-Centrum e.V.

Nahezu jede Person, die in Deutschland die mittlere Reife erlangt, wird während ihrer schulischen Laufbahn mindestens einmal mit der Geschichte des Nationalsozialismus konfrontiert. Der Zweite Weltkrieg, Konzentrationslager und Holocaust sind deshalb Schlagwörter, unter denen sich die meisten Menschen etwas vorstellen können. Anders sieht es aus, wenn es um den Porajmos geht. Im Kontext des Nationalsozialismus werden Rom*nja und Sinti*zze meistens nur als Randnotiz erwähnt, obwohl auch sie Opfer eines grausamen Genozids geworden sind. Noch heute wird auf deutschen Schulhöfen »Zigeuner« als Beleidigung verwendet und gesellschaftlich häufig toleriert. Der weitverbreitete Mythos, das Wort sei von »ziehender Gauner« abgeleitet, wird von den meisten Linguist*innen abgestritten. Wahrscheinlicher ist, dass es sich bei der rassistischen Fremdbezeichnung um eine Ableitung aus dem griechischen Wort »αθιγγανοι« (ausgesprochen »athinganoi«) handelt, welches so viel wie »unberührbar« bedeutet. Die englische, ebenfalls rassistische Fremdbezeichnung »gypsies« ist auf den Trugschluss zurückzuführen, Rom*nja würden aus Ägypten (»egyptians«) stammen.

Leider sind die Fremdbezeichnungen immer noch geläufiger als die korrekte Bezeichnung Rom*nja und Sinti*zze. Und obwohl diese mit zehn bis zwölf Millionen die größte Minderheit Europas darstellen, ist der Mehrheitsgesellschaft wenig über Rom*nja und Sinti*zze bekannt. Dazu gehört auch der Fakt, dass der Ursprung der europäischen Minderheit im Nordwesten der indischen Halbinsel liegt. Von diesem Gebiet aus verbreiteten sich Rom*nja und Sinti*zze seit dem Hochmittelalter westwärts, vermutlich notgedrungen aufgrund von Kriegen, bis die ersten von ihnen schließlich im 13. bis 14. Jahrhundert in Europa ankamen. Dabei sind die Sinti*zze als Teilgruppe neben den Rom*nja zu betrachten, die seit dem 15. Jahrhundert in Mitteleuropa ansässig ist. Die ersten Aufzeichnungen von Rom*nja auf deutschsprachigem Gebiet datieren auf 1407. In diesen frühen Dokumenten werden der Volksgruppe einige positive Attribute zugeschrieben. Besonders hervorgehoben sind in diesen Texten die ausgeprägten musischen Begabungen und Sprachkompetenzen der Neuankömmlinge – Stereotype, die sich bis heute halten.

Rom*nja-Feindlichkeit – eine Erfindung der Nationalsozialisten?

Obwohl der Porajmos, der systematische Völkermord, dem mindestens 500.000 Sinti*zze und Rom*nja zum Opfer fielen, das tragischste Kapitel in der Historie der Volksgruppen darstellt, wäre es falsch, zu behaupten, Rom*njafeindlichkeit sei eine Erfindung der Nationalsozialisten. Vielmehr nutzten diese bereits seit der frühen Neuzeit bestehende und in der Mehrheitsbevölkerung etablierte Vorurteile und rassistische Stigmatisierungen als Fundament für ihre Gräueltaten. Schon am 4. September 1498, weniger als ein Jahrhundert nach dem Ankommen der ersten Rom*nja im Gebiet des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, erklärte der Reichstag in Freiburg »zigeuner« als vogelfrei und forderte die Vertreibung dieser »uß den landen teutscher nacion«. Das Hauptargument für diesen Beschluss stellte die Vermutung dar, die Rom*nja seien eigentlich muslimische Spion*innen und Missionär*innen aus dem osmanischen Reich – ungeachtet der Tatsache, dass die Mehrheit der lokalen Rom*nja-Communities dem christlichen Glauben angehörte. Auch außerhalb der deutschsprachigen Gebiete ereilte die Rom*nja kein leichtes Schicksal.

So wurden sie in den Donaufürstentümern Moldau und Walachei seit ihrer Ankunft im 14. Jahrhundert und bis ins Jahr 1856 als Sklav*innen und Leibeigene gehalten. Dabei kam es nicht selten vor, dass Familien entzweit und Kinder von ihren Eltern getrennt wurden. Da Rom*nja-Familien in solchen Fällen versuchten, ihre Kinder wieder zu sich zu holen, entstand das Vorurteil des Kinderraubs, welches sich schnell in ganz Europa verbreitete. Der omnipräsente Hass sowie die ständige Vertreibung aus Städten und Provinzen, mit denen sich die Rom*nja konfrontiert sahen, zwang sie zudem de facto dazu, ständig von einem Ort zum nächsten zu migrieren. Das Klischee des in Wohnwägen lebenden Nomad*innenvolks ist somit ebenfalls hinfällig, da dieser nicht sesshafte Lebensstil keineswegs freiwillig praktiziert wurde. Zum Ende des 19. Jahrhunderts, nach der deutschen Reichsgründung, wurden – in besonderem Maße in Bayern – eine Mehrzahl an diskriminierenden Gesetzen gegenüber den Rom*nja und Sinti*zze beschlossen. Zudem wurden Listen geführt, auf welchen alle auf deutschem Gebiet lebenden Rom*nja und Sinti*zze registriert waren. Diese Listen ermöglichten es dem NS-Regime später, Massendeportationen effektiv durchzuführen.

Wenige Wochen vor den Olympischen Spielen 1936 in Berlin wurde am Rande der Stadt ein Zwangslager errichtet, in das die lokale Rom*nja- und Sinti*zzeBevölkerung deportiert wurde. Die hierfür errichtete Wohnwagensiedlung bediente bewusst das Klischee des unzivilisierten und nicht anpassungsfähigen Nomad*innenvolks und wurde zum Drehort für einige Propagandafilme, die diese rassistischen Stigmatisierungen bestätigten. Zwei Namen, die im Rahmen der pseudowissenschaftlichen und faschistisch-ideologisch geprägten »Rassenforschung« der Nationalsozialisten eine tragende Rolle spielten, waren der Kinderarzt Robert Ritter und die Anthropologin Eva Justin. Die beiden führten unter anderem Messungen durch, um anhand von morphologischen

Merkmalen wie der Nasenlänge und dem Kopfumfang aufzuzeigen, dass sich die »Zigeuner« von der »arischen Rasse« klar unterscheiden würden. Neben Vermessungen von Körperteilen wurden grausame Experimente, vor allem an Kindern und Jugendlichen durchgeführt, bei denen unter anderem deren Schmerz- und Giftresistenz untersucht wurde. Viele junge Rom*nja und Sinti*zze starben an den Folgen dieser pseudowissenschaftlichen Experimente oder wurden durch die Nationalsozialisten sterilisiert. Besonders makaber: Die beiden Rassenforscher*innen erlitten, auch nach dem Ende des NS-Regimes, niemals Konsequenzen für die von ihnen verübten Gräueltaten. Im Gegenteil – Eva Justin war ab 1948 als Kinderpsychologin (!) in Frankfurt am Main tätig, während Robert Ritter ab 1947 die »Fürsorgestelle für Gemüts- und Nervenkranke« sowie die Jugendpsychiatrie in derselben Stadt leitete.

Das Echo der NS-Zeit

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Eva Justins »Rassenstudien« in mehreren osteuropäischen Ländern als legitimes wissenschaftliches Material anerkannt und verbreitet. Das führte dazu, dass ohnehin vorhandene rom*njafeindliche Ressentiments mithilfe dieser rassistischen Studien bekräftigt wurden. Bis heute werden Rom*nja in ebendiesen Ländern sowohl auf dem Wohnungs- als auch auf dem Arbeits- und Bildungsmarkt diskriminiert. So wird in Tschechien und der Slowakei bis heute ein signifikant hoher Anteil an Kindern unabhängig von ihrer schulischen Leistung in Sonderschulen geschickt und so systematisch von der Mehrheitsgesellschaft abgekapselt. Auch in der jüngeren Geschichte kam es wiederholt zu antiziganistisch motivierten Straftaten gegenüber Rom*nja. Die prominentesten Beispiele hierfür sind die sogenannten »ethnischen Säuberungen« im Rahmen der Jugoslawienkriege und später im Kosovo, bei denen ganze Rom*nja-Siedlungen zerstört und die ansässige Bevölkerung vertrieben wurde, sowie die zwischen 2008 und 2009 in Ungarn an Rom*nja verübte Mord- und Anschlagserie.

Auch in Deutschland kommt es immer wieder zu Gewalttaten verschiedenster Art gegen die größte Minderheit Europas. So listet die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus für das Jahr 2022 621 entsprechende Fälle auf. Davon bezog sich ein

gemeldeter Fall auf extreme Gewalt, 17 umfassten Angriffe, 334 Diskriminierungen, vier Sachbeschädigungen, elf Bedrohungen und 245 verbale Angriffe. Im Jahr 2023 machte dann ein rechtsextremer Überfall auf eine Roma-Familie aus Bosnien Schlagzeilen. Die Familie war von Berlin in die brandenburgische Landstadt Lieberose gezogen. »Wir wurden vom Vermieter und den Nachbarn sehr gut aufgenommen und haben uns darauf gefreut, hier zu leben«, beschrieb Enisa B. die Ankunft in Lieberose. Doch innerhalb nur weniger Tage erfuhr die Familie wiederholt Gewalt, Bedrohungen und Beleidigungen. Aus Angst vor weiterer Gewalt machte sie nicht öffentlich, eine Roma-Familie zu sein. Am späten Freitagabend, die Kinder schliefen bereits, hämmerte plötzlich ein alkoholisierter Mann an das Fenster der Wohnung. Wie sich später herausstellt, war er polizeibekannt. Er habe mehrmals neonazistische Parolen gerufen und auch den Hitlergruß gezeigt, berichtete Enisa B. Die Frau sei aus der Wohnung getreten, um den Mann zum Gehen aufzufordern. »Verschwindet von hier«, habe der Mann ihr gedroht. Auch am nächsten Tag war die Familie rassistischer Gewalt und Bedrohungen ausgesetzt, weshalb sie Lieberose fluchtartig wieder verließ. Solche Gewalt, auch gegen Kinder und Jugendliche, ist leider kein Einzelfall, wie die Berichte der Melde- und Informationsstelle Antiziganismus zeigen.

Zunehmende Selbstorganisation der Europäischen Rom*nja und Sinti*zze

Nichtsdestotrotz gibt es einige Lichtblicke in der jüngeren Geschichte der Rom*nja und Sinti*zze. So fand am 8. April 1971 der erste Weltromakongress in London statt. Bei diesem wurde Romanes als offizielle Sprache sowie »Roma« als Eigenbezeichnung des Volkes festgelegt. »Rom/Romni« bedeutet »Mensch« auf Romanes. Mit der Rom*nja-Flagge und der Hymne (Djelem Djelem) wurden zudem zwei wichtige Symbole für die Identität und das nationale Selbstverständnis der Rom*nja etabliert. Am 17. März 1982 erkannte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt den Völkermord an Rom*nja und Sinti*zze seitens des NS-Regimes offiziell an,

am 24. Oktober 2012 wurde mit der Eröffnung des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas in Berlin ein Ort des Gedenkens und Erinnerns errichtet. Mittlerweile arbeiten europaweit NGOs und Vereine für die politische und gesellschaftliche Emanzipation der lokalen Rom*nja- und Sinti*zze-Communities sowie für die Sichtbarmachung der Historie und aktuellen Problematiken der Minderheit. Dabei ist der Begriff »Antiziganismus«, der sich seit den 1980ern etabliert hat, heutzutage unter Rom*nja-Aktivist*innen umstritten, da er den Wortstamm der rassistischen Fremdbezeichnung enthält.

Rroma Informations Centrum e.V.

as Rroma Informations Centrum e. V., eine von vielen Organisationen, die sich dem Rom*nja- und Sinti*zze-Aktivismus verschrieben haben, bietet seit 2013 historische Stadtrundgänge in Berlin an, bei welchen u. a. das Denkmal für die im Nationalsozialismus

ermordeten Sinti und Roma Europas sowie die Gedenkstätte, die an das 1936 errichtete Zwangslager erinnert, besucht werden. Weitere Informationen auf rroma-info-centrum.de.